Kaum ein Motiv in Cinderella ist so ikonisch wie der Pantoffel aus Glas.
Die Kürbiskutsche? Die gute Fee? Ebenfalls sehr bekannt, aber um Längen geschlagen vom im Grunde genommen recht unpraktischen Tanzschuh der Titelheldin.
Das Motiv des armen Mädchens, das unter der schlechten Behandlung seiner Stieffamilie leidet und schließlich einen Prinzen heiratet, ist uralt. (Darauf werde ich im ersten „richtigen“ Märchenzeit-Artikel eingehen. Da dieser aber gerade länger und länger zu werden droht und ich beschlossen habe, mich dort auf einige klare Themen zu fokussieren, dachte ich, ich lagere diesen Teil hier einfach in einen gesonderten Artikel aus, der euch einen kleinen Vorgeschmack gibt).
Der Glaspantoffel ist jedenfalls vor allem eine Erfindung aus dem 17. Jahrhundert. In seiner Märchensammlung erzählte der französische Literat Charles Perrault Cendrillon ou la Petite pantoufle de verre – Cinderella und der kleine Pantoffel aus Glas.
Wie ihr seht, verewigte Perrault diesen Schuh bereits im Titel. Seine Märchenfassung trat den Siegeszug um die Welt an, und vor allem Disneys Zeichentrickklassiker sorgt dafür, dass es auch in der deutschsprachigen Gegend gegenüber der Grimm’schen Aschenputtel-Version immer dominanter wird.
Kaum eine Cinderella-Adaption, die ohne Glasschuh auskommt.
Was aber wäre, wenn Perrault ursprünglich gar nicht von einem Glaspantoffel gesprochen hat, sondern von einem Schuh aus Fell, genauer gesagt aus Eichhörnchenfell?
Ein Schuh aus Eichhörnchenfell
In Perraults Zeiten waren die sogenannten französischen Salons sehr beliebt: Frauen aus dem Adel luden zu geselligen Zusammenkünften ein, bei denen vor allem gesellschaftliche Themen und Kunst diskutiert wurden. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts machte man einen Sport daraus, alte Volksmärchen neu zu erzählen oder gar neue zu erfinden. Ziel war es, dabei durch erzählerisches Geschick zu glänzen und das aristokratische Leben zu kommentieren, um Debatten auszulösen. In dieser Zeit entstanden zahllose neue Geschichten, die man heute unter dem Sammelbegriff Feenmärchen zusammenfasst.
In den Salons wurden die Feenmärchen mündlich vorgetragen oder vorgelesen. Könnten Perrault dort eine Aschenputtel-Erzählung gehört und sich, was den Pantoffel der Heldin angeht, schlicht verhört haben? „Verre“, das französische Wort für Glas, klingt immerhin recht ähnlich dem Wort „vair“, Eichhörnchenfell.
Immerhin klingt ein Tanzschuh aus Fell wesentlich bequemer als ein Pantoffel aus Glas. Die Befürworter dieser Theorie führten an, dass es sich beim Fell eines Eichhörnchens tatsächlich seinerzeit um einen Luxusartikel handelte, den nur hochgestellte Mitglieder der Gesellschaft tragen durften.
Dann wird’s wild:
Ihr erinnert euch an das Märchen? Um seine Tanzpartnerin zu finden und sie zur Braut zu nehmen, veranlasst der Prinz, dass er diejenige heiraten würde, der ihr verlorener Tanzschuh passt. Boten reisen durch das Land und nachdem Prinzessinnen und Hofdamen umsonst versuchten, sich in den winzigen Schuh zu zwängen, kommt dieser schließlich auch in das Zuhause des Aschenputtels.
Einige Märchentheoretiker verweisen an dieser Stelle auf das altertümliche „Recht der ersten Nacht“, die es einem Herrn erlaubte, bei der Hochzeit zweier Menschen, die ihm untertan waren, die erste Nacht mit der Braut zu verbringen – oder aber eine Ablösesumme in Geld dafür zu erhalten, damit er darauf verzichtete.
Die seltsame Suche nach der Braut, das „Schlüpfen in den Schuh“, sei genau hierfür eine Metapher. Sei nun Cendrillons Pantoffel nicht aus Glas gewesen, sondern aus Fell, wäre das Motiv noch wesentlich symbolträchtiger. (Würde den Prinzen aber auch sofort in ein deutlich weniger romantisches Licht rücken, nicht wahr?)
Um es gleich aufzulösen:
Mittlerweile bezweifelt man, dass es das Recht der ersten Nacht historisch betrachtet überhaupt gab.
Perraults Schuh war aus ...
Perraults Schuh war, da ist sich das Gros der Märchenforscher einig, aus Glas und nicht aus Fell. Die Annahme, es könne sich um einen Übertragungsfehler handeln, ist aus diversen Gründen für sie zu weit hergeholt. Nicht nur war das Wort „vair“ zu Perraults Zeiten veraltet und nicht mehr gebräuchlich. Das Glasmotiv passt zudem wunderbar zum märchenhaften Charakter der Geschichte. Nicht nur ist es etwas Besonderes, Magisches. Glas war zu Perraults Zeiten äußerst kostbar und faszinierend. Ludwig XIV. hatte vor nicht allzu langer Zeit den Spiegelsaal in Versailles bauen lassen, ein für damalige Zeit gigantisches Unterfangen.
Perrault löste sich vermutlich sehr bewusst von anderen Aschenputtel-Varianten, in denen die Heldin Schuhe aus Samt trägt oder aus Gold. Mit dem Glasschuh schuf er ein Bild für die Ewigkeit, das uns bis heute verzaubert und inspiriert.
Trotzdem: die Idee mit dem Fell ist auch ein schönes Gedankenexperiment – gerade für Künstler, die mit dem Cinderella-Motiv in ihren Werken spielen.
Falls ihr mehr über die verschiedenen Aschenputtel-Varianten quer durch alle Zeiten und Länder erfahren möchtet, falls ihr von "Cinderellas" lesen möchtet, die mit Zauberfischen sprechen, als Kurtisanen arbeiten oder gar zur Mörderin werden : Schaut euch diesen Märchenweisheit-Artikel an.
Und falls ihr euch für ein anderes französisches Märchen sehr interessiert: In Das ursprüngliche Ende von DIE SCHÖNE UND DAS BIEST verrate ich, dass die Geschichte im Original viel länger ist als heute bekannt.